Mindestens 140 Menschen sind zwischen 1961 und 1989 an der Berliner Mauer erschossen worden, verunglückt oder auf andere Weise ums Leben gekommen. Unter den Toten sind auch Kinder, die beim Spielen auf West-Berliner Seite ins Wasser fielen und ertranken. Einsatzkräfte aus West-Berlin durften nicht zur Hilfe kommen. Eines der Opfer ist Çetin Mert. Nach dem kleinen Jungen wurde im Mai 2024 ein Park an der Ecke Skalitzer Straße/Mariannenstraße in Kreuzberg benannt. Dort erinnert eine Gedenktafel an das Schicksal des Jungen.
An seinem 50. Todestag am 11. Mai 2025 erinnert die Stiftung Berliner Mauer in Kooperation mit dem FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum an Çetin Mert.
Am 11. Mai 1975, einem Sonntag, feiert Çetin Mert seinen fünften Geburtstag. Die Eltern wollen mit ihren Kindern ein Picknick im Grünen veranstalten. Bevor es losgeht, trifft das Geburtstagkind noch ein paar Nachbarskinder zum Ballspielen am Gröbenufer (heute May-Ayim-Ufer). Dann nimmt das Unglück seinen Lauf: Der Ball rollt die Böschung hinunter in die Spree. Çetin rennt hinterher und versucht, den Ball mit einem Stock aus dem Wasser zu fischen. Dabei verliert der kleine Junge das Gleichgewicht und fällt in den Fluss.
Kurz darauf, gegen 12:30 Uhr, treffen die West-Berliner Polizei und Feuerwehr an der Unglücksstelle ein. Mit einem Gestänge suchen sie nach dem Kind. Ins Wasser zu springen, um den Jungen zu retten, trauen sie sich nicht. Denn die Spree gehört an dieser Stelle in ganzer Breite zu Ost-Berlin und damit zur DDR. Und das „Betreten“ der DDR-Grenzanlagen ist Unbefugten verboten. Hier wird geschossen.
Vergeblich bemüht sich ein Brandmeister am Grenzübergang Oberbaumbrücke um eine Genehmigung für den Einsatz der Rettungskräfte. Gleichzeitig versuchen Passanten durch Rufen die DDR-Grenzposten auf den Vorfall aufmerksam zu machen. Doch erst gegen 13:10 Uhr trifft ein Grenzsicherungsboot der DDR am Unfallort ein. Eine Stunde später bergen Taucher der Grenztruppen den Leichnam von Çetin Mert, kaum fünf Meter vom Westufer entfernt.
Auf der Kreuzberger Seite haben sich mittlerweile Angehörige des Opfers und Passanten versammelt. Sie protestieren wütend, als die Leiche des kleinen Jungen nicht der West-Berliner Seite übergeben wird. Das tote Kind wird stattdessen ins Gerichtsmedizinische Institut der Charité nach Ost-Berlin gebracht und erst Tage später den Eltern übergeben.
An der Unglücksstelle kommt es in den folgenden Tagen immer wieder zu heftigen Protesten gegen das DDR-Grenzregime. Etwa 2.000 Mitglieder der türkischen Gemeinde West-Berlins demonstrieren gegen das Verhalten der DDR-Grenzposten und verteilen Flugblätter mit Aufschriften wie „Nieder mit der Schandmauer – Nieder mit dem Mörder-System Kommunismus“[1]. Die Staatssicherheit notiert Sprechchöre: „Mörder, Mörder, Kindermörder!“[2]
Erst nach der Wiedervereinigung wurde bekannt, dass Çetin Mert wahrscheinlich hätte gerettet werden können. Das wird durch Stasi-Akten belegt. Zwei DDR-Grenzposten, sogenannte Aufklärer, beobachteten „gegen 11:27 Uhr 2 spielende Kinder am bezeichneten Ort des Vorkommnisses. Beim Versuch eines der Kinder, einen Stock ins Wasser zu werfen, rutschte dieses ab und fiel ins Wasser.“[3] Die Posten erstatteten jedoch erst wesentlich später Meldung. Statt Hilfe zu holen, erstellten sie eine Fotodokumentation.
Çetin Mert war das fünfte Kind, das seit dem Mauerbau beim Spielen an der Spree ertrank, weil West-Berliner Einsatzkräfte nicht eingreifen durften.
West-Berliner Kinder, ertrunken in der Spree an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Kreuzberg und Berlin-Friedrichshain
Nach dem Tod des Jungen ließ der West-Berliner Senat am Kreuzberger Gröbenufer die vier Durchgänge zur Uferböschung zuschweißen. Vor die Kaimauer kam ein Maschendrahtzaun, um weitere Unfälle zu verhindern. Große Hinweisschilder auf Deutsch und Türkisch warnten vor dem Betreten des Uferbereichs.
Im Herbst 1975 einigten sich Berliner Senat und DDR-Regierung auf Rettungsmaßnahmen bei Unfällen an der Berliner Sektorengrenze. In der Vereinbarung heißt es: „Rettungsmaßnahmen können in solchen Ausnahmefällen eingeleitet werden, in denen befugte Personen von Berlin (West) vor den Organen der DDR am Unglücksort eintreffen.“[4] Befugt waren allerdings nur Feuerwehr und Wasserrettungsdienst. Alle anderen Personen, z. B. auch die Polizei, durften „von Berlin (West) aus verunglückten Personen durch das Zuwerfen von Rettungsringen, Leinen, u. a. Hilfsmitteln vom Ufer aus Hilfe leisten“.[5]
[1] Bericht des [MfS]HA I/Grenzkommando Mitte über die Situation an der Staatsgrenze vom 19.5. bis 20.5.1975, 20.5.1975, in: BStU, MfS, HA I Nr. 14878, Bl. 229.
[2] Bericht des MfS/HA I/Grenzkommando Mitte/Bereich Aufklärung, über die Untersuchung der Provokation an der Staatsgrenze zu Westberlin im Grenzregiment 35, 14.5.1975, in: BStU, MfS, HA I Nr. 14878, Bl. 232-233
[3] zit. nach www.chronik-der-mauer.de/todesopfer/171638/cetin-mert-mfs-information-ueber-die-bergung-der-leiche
[4] zit. nach www.chronik-der-mauer.de/todesopfer/171640/vereinbarung-des-berliner-senats-und-der-ddr-regierung-ueber-rettungsmassnahmen-bei-unfaellen-an-der-berliner-sektorengrenze-29-oktober-1975
[5] ebd.